Die Zerstörung als künstlerische Manifestation zählt zu den umstrittensten und zweideutigsten Erscheinungen, mit denen die Kunst seit Jahrzehnten das Publikum konfrontiert und verwirrt. Meist bleibt unklar, ob damit die unerhörten Zerstörungen, die in diesem Jahrhundert praktiziert worden sind, reflektiert werden oder eine selbständige Aktion zum Ausbruch drängt, ob der Künstler als Therapeut auftritt oder stellvertretend für die Gesellschaft und exponiert sadistische Akte vollzieht. Im folgenden geben wir einem Künstler das Wort, der zwar die dringliche Analyse nicht gibt, aber die Erscheinungsformen einer entfesselten Kunst aufzeigt und die hintergründigen gesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhänge andeutet.
Explodierendes Bild, ein Beitrag zu «Destruction in Art»
(Foto: Thomas Cugini)
Dada verstand sich seinerzeit ebenso wie der Futurismus oder der Surrealismus als destruktiv. Die eigentlich surrealistische Tat sei — so schrieb André Breton im zweiten Manifest —, eine Pistole zu nehmen und wahllos in die Menge zu feuern. Wenige Wochen vor seinem Tod erfuhr Breton von jenem «Happening» in Texas, bei dem ein «real american boy» — Charlie Whitman — auf einen Turm stieg und von der erhöhten Plattform aus zwölf Menschen totschoss; weitere 31 wurden verletzt. Zuvor hatte der Schütze seine Mutter und seine junge Frau erschossen. Breton war zutiefst erschüttert.
An diesem Beispiel wird eine Grenze erkennbar, die die Realität des Terrors von jener Realität des Spiels trennt, die wir als Kunst erkennen. Sie ist mitunter nicht weniger entsetzlich; denn wir haben die Erfahrung gemacht, das Bild oder das Objekt auch als einen traktierten Gegenstand zu verstehen, als einen Fetisch, der Auskünfte gibt über einen Sachverhalt. Behutsam angedeutet wird hier eine neue semantische Dimension des abstrakten Bildes erkennbar, die aus den zerschnittenen Leinwänden Fontanas, den verbrannten Tafeln von Yves Klein oder den verschnürten Objekten von Christo ihre unheimliche Sprache spricht, die grausam ist und schön zugleich. Es ist die Ästhetik der Gewalt. Mit einem anderen Beispiel: Der Anblick einer Wasserstoffbomben-Explosion ist zugleich auch jenes unerhört betörende Schauspiel, das wir nicht lebend überstehen, weil es uns brennend zerstört wie der furchtbare Engel der Apokalypse.
Wenn Kurt Schwitters in diesem Jahr vielfältige Ehrungen erfährt, dann haben jene Kritiker recht, die einer künstlerischen Bewegung fünfzig Jahre zubilligen, um sich durchzusetzen. Nach dieser Zeit stellt sich ihr Problem aufs neue, nur einer anderen Generation und um einige Phasen der Erfahrung bereichert.
Dada zerstörte, weil Zerstörung zum Prinzip einer Gesellschaft geworden war. Deutsche Arbeiter und französische Aristokraten, deutsche Aristokraten und französische Arbeiter mordeten sich gegenseitig um der «Ehre» willen. Geschehen an der Somme, an der Marne, an der Maas im Dada-Jahr 1916. Dada verzichtete auf Bilder, auf Sprache, «die verwüstet und unmöglich geworden war durch den Journalismus» (H. Ball). Dada missachtete die Gesellschaft, weil sie reif geworden war zur Subversion. Jetzt, fünfzig Jahre später, ist man erstaunt, wie sich die Bilder gleichen.
Sind wir also aufgerufen, destruktiv zu sein? Weil das, was vom Establishment als «verbindlich», «ordentlich», «ehrerbietend», «rechtlich», «grundgesetzlich garantiert», «unverbrüchlich» ausgewiesen wird (oder was in der Sprache des etablierten Kunstmarktes als «Qualität, Novität, Originalität» angeboten wird), längst unglaubwürdig geworden ist?
Es gibt eine Bewegung von Künstlern, die, zunächst ohne Kenntnis voneinander, in vielen Ländern den veränderten Phänomenen auf eine sehr eigenwillige Weise zu Leibe rückte: DIAS — Destruction In Art Symposium. Das Wort Symposium zeigt an, dass es sich um eine Versammlung handelt, deren Angehörige bereit sind, Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Hier ist ein neuer Typ von Künstlern am Werk, der die Phänomene reflektiert und in der Lage ist, die neuen Eindrücke zu formulieren oder zu demonstrieren. Das sieht zum Beispiel so aus: Ralph Ortiz, der kubanische Künstler aus New York, macht eine Froschbefragung, bei der er Realität und Fiktion sich bedenklich nähern lässt. Einige gefangene Frösche werden von einem zugelassenen Publikum vernommen. Beantworten die Frösche die Fragen zufriedenstellend, werden sie freigelassen, antworten sie unzulänglich oder gar nicht, werden sie mit dem Stiefelabsatz zerquetscht.
Destruktionen im Bereich des bildnerischen Mediums sind ein selbstverständlicher Bestandteil jeder Tätigkeit, die Schöpfung als einen Prozess der Umwandlung versteht. Destruktion ist also immer Transformation. Die Frage, was transformiert werden soll, stellt sich von selbst: das Bild und durch das Bild das Bewusstsein. Auge und Geist, diese intelligenten Sinne, wurden Opfer unserer Routine oder der Spekulation. Sie sind den veränderten Phänomenen gegenüber unsensibel geworden. Die Sprache wurde beziehungslos. Jeder Kritiker und jeder Künstler weiss davon. Mit dem sprachlichen Vokabular, mit dem wir uns einem Matisse oder Picasso nähern, gehen wir an Happening, Pop-art oder Primary Structures heran. Demgegenüber erleben wir die Entmythologisierung des Bildes durch die Künstler selbst. Das Bild als ein im Museum gehütetes, wird von den Künstlern vorsätzlich verletzt, seine Einzigartigkeit wird in Zweifel gezogen. Es wird auf den Prozess seiner Herstellung verwiesen, der zunächst mehr aussagt, als wir bei modernen Bildern annehmen.
Es wird von einer Gruppe japanischer Künstler berichtet, die zu einem Happening einlud, bei dem «Leben» dargestellt werden sollte. Als die Stunde des Ereignisses gekommen war, sprangen die Künstler aus dem obersten Stockwerk eines Hochhauses auf die Strasse und zerschellten vor den entsetzten Augen der Anwesenden. Für den Sinn dieser Aktion lassen sich konkrete Beziehungen herstellen: Zu der Zeit, da er noch Senator war, sagte John F. Kennedy einmal: «Der nukleare Weltvorrat wird geschätzt auf das Äquivalent von 30 Billionen Tonnen TNT — etwa zehn Tonnen TNT für jeden Bewohner der Erde!»
(Werner Schreib, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 294, 19.12.1967, S. 22)
(…)
Die Literatur arbeite neuerdings mit vorgeformten Texten, meint Werner Schreib und findet darin eine Parallele zu den halbmechanischen Herstellungsverfahren in der bildenden Kunst. Er selber arbeitet mit Schrauben, Zahnrädern, Stempeln, die er in die aufgetragene Farbpaste eindrückt. «Semantische Malerei» (Semantik: Lehre von den Zeichen) — Schreib hat diesen Begriff gewählt, um seine und seines italienischen Freundes Lattanzi Bilder zu charakterisieren. Der semantische Maler will «Grundgesten organisieren», die als «rational Bewegtheiten, welche sich selber ausdrücken», verstanden werden. Das semantische Bild ist reliefhaft, eine mit eingegrabenen Chiffren angefüllte Fläche. Es will wie ein «mit Bedeutung geladener literarischer Text gelesen werden». Eine weitere amüsante Nuance: Schreib zitiert in seinen Bildern andere Maler. Es ist nicht ganz leicht, die Zitate und Chiffren zu lesen. Aber auch wer nicht ganz dahinter kommt, den wird die aus winzigen Bewegungspartikeln gewonnene Gestik der Bilder beeindrucken. Sie ragen formal und in ihrem potentiellen Gehalt weit aus dem abstrakten Durchschnitt von heute. Schreib, Jahrgang 25, hat mit seinen Bildern und seiner Graphik ungewöhnlichen Erfolg gehabt. 1959 erhielt er in Paris auf der Biennale des Jeunes Artistes den Graphikpreis, 1960 war er auf der Biennale in Venedig.
(…)
(«Die Zeit », Nr. 6/1963)
Die Galerie Hilt zeigt «Paysages astronautiques» des 1925 in Berlin geborenen Künstlers Werner Schreib. Es handelt sich dabei in der Tat um Bildnisse aus dem Weltraum, so wie ihn sich der kleine Mann, orientiert anhand der minutiösen, halb wissenschaftlichen, halb utopischen Illustrationen in den Massenmedien, vorstellt. Hier allerdings sind diese Landschaften mit unfigurativen Mitteln und verfremdeten Materialien in eine Form transportiert, die künstlerische Ansprüche erhebt.
Schreib setzt raffinierte Tricks ein, um zu seiner Aussage zu gelangen: reliefartige Formabgüsse (aus einer undefinierbaren Substanz) von x-beliebigen Maschinenteilen werden in funktionsfremden Zusammenhängen neu gruppiert; solches ergibt «interplanetarische Landschaftsillusionen». Diese Partien «schweben» auf monochromen oder wolkig vernebelten Gründen, die ihrerseits von exakten Hyperbeln oder ähnlichen Kurven durchzogen sind. Der Effekt, der mit solchen Transformationen erreicht wird, ist stupend; es wäre denkbar, diese Ideen für Bühnenbilder oder als Filmkulissen auszuwerten. Unwitzig scheint mir aber die Idee, ein aus Papier gefaltetes, kleines Flugzeug auf eine «Sternenbahn» zu setzen oder eine ferne Sonne mit Konfektpapierspitze zu markieren.
(«eth»/Autor unbekannt, wahrscheinlich publiziert in einer lokalen/Basler Zeitung im Herbst 1968)
Der Maler Werner Schreib (1925-1969) war in der Zeit des ausgehenden Tachismus in Deutschland eine wichtige Figur. Er gehört zu jenen, die damals über die Kunst und über ihre Arbeit rational reflektiert haben, und er war einer der ersten jungen Deutschen, die ernst zu nehmende Arbeitsgemeinschaft auch mit einem Ausländer hatten, mit dem Italiener Luciano Lattanzi; sie brachten den Begriff der Semantik in die Debatte; Zeitungen, die sie verschickten, trugen einen «Semantik»-Stempel.
Ein semantisches Bild von Schreib wurde 1966 vom Deutschen Künstlerbund refüsiert; im gleichen Jahr erhielt Schreib (neben Vasarely) auf der 1. Biennale in Krakau den Kunstpreis «Ex Æquo»; den Grand Prix der 1. «Biennale des Jeunes Artistes» in Paris hatte er 1959 bekommen. (Der Pariser Jury gehörte damals nur ein Deutscher, nämlich Will Grohmann an.) Schreib war auf den Biennalen in Venedig (1960) und Tokio (1962), auch auf der zweiten Kasseler documenta (1959) vertreten. In Mannheim und in Wiesbaden, auch in Frankfurt bin ich ihm gelegentlich begegnet. Denkprozesse waren ihm wichtiger als künstlerische Intuition, damals war das ein Novum. Schreibs Zorn, seine ironische Bitterkeit, hier und da nicht zugelassen oder übersehen zu sein, war nahezu permanent, für ihn war es ein System für die allgemeine Situation. Während der dritten documenta verbrannte er eines seiner Bilder auf dem Platz vor dem Fridericianum in Kassel — aus Protest gegen die Situation der Kunst in Deutschland.
Schreib führte den Begriff «Der Organisation von Grundgesten» ein, mit dieser «Organisation» war einer der legitimen Auswege aus dem Tachismus gewiesen, von dieser Ordnung findet er zur ornamentalen Wiederholung. Die eingedrückten Werkzeugspuren in der Bildmasse tendieren, wie die gruppierten Striche, bereits zum Ornament.
1968 zeigte Schreib in einer Baseler Galerie Arbeiten mit dem Titel «Paysages astronautiques». Neben den Partien mit den plastischen Abdrücken der Werkzeuge in der Bildmasse taucht, beinahe illusionistisch, so etwas wie gemalter Himmel auf, auch farbige Ringe, die Himmelserscheinungen symbolisieren. Schreib faszinierte der erweiterte Raum, er war einer der ersten, die im Bild auf die Weltraumfahrt reagiert haben.
Die Kunsthalle in Mannheim zeigt bis zum 24. Februar aus dem Nachlass Werner Schreib Zeichnungen und sein druckgraphisches Werk, darunter auch eine Serie von Farbradierungen «Suite astronautique» mit geometrischen Konstruktionen, sehr schöne durchreflektierte Blätter. Auch Schreib hat mit Feuer, mit der Zerstörung gearbeitet; Destruktion war für ihn (wie für Otto Piene) ein legitimes Gestaltungsmittel. Schreib hat Feuerplastiken gemacht und «Pyrogravuren», er hat Pulver und Zündschnüre in seine Bilder eingelassen, eines ist noch nicht gezündet, man sieht es in Mannheim in der gleichzeitig zur Kunsthallen-Ausstellung in der Galerie Lauter stattfindenden Ausstellung von Bildern Schreibs. Der abschliessende Prozess steht in diesem Fall noch aus, er soll einem späteren Besitzer überlassen bleiben.
Bei der Einbeziehung der Destruktion in den gestalterischen Prozess hat sich Schreib ausdrücklich auf Lautréamont bezogen; sein Verhältnis zur Poesie führte ihn in die Nähe des Surrealismus: sein grosses Vorbild, das zeigt die Nachlassausstellung in der Mannheimer Kunsthalle deutlich, wurde Max Ernst. Von den Ernstschen Frottagen hat Schreib viel gelernt, er hat die Methode übernommen, mit ihr jedoch ein sich von Ernst deutlich unterscheidendes, anderes Verhältnis zum Raum artikuliert.
Wenn Schreib jetzt die beiden Mannheimer Ausstellungen sähe oder läse, was auf dieser Seite steht, würde er wahrscheinlich nur mitleidig lächeln und ironisch bemerken: «So spät?» — ich könnte nur — pater peccavi — mit einer seiner ironischen Unterschriften auf einer seiner Zeichnungen antworten: «Es gibt Tage, an denen die Tinte fliegen lernt …»
(Doris Schmidt, Süddeutsche Zeitung, Nr. 33, 6.2.1974, S. 10)